Psychologie: Warum ich lieber keine 100 Jahre werden möchte
Optimale Ernährung, smartes Schlafen nach Tracking-App, gesundheitsfördernde Hobbys – dank Forschung wissen wir heute, wie wir leben müssen, um möglichst alt zu werden. Unsere Autorin interessiert das alles nicht. Langlebigkeit funktioniert für sie nicht als Lebensfokus.
Optimale Ernährung, smartes Schlafen nach Tracking-App, gesundheitsfördernde Hobbys – dank Forschung wissen wir heute, wie wir leben müssen, um möglichst alt zu werden. Unsere Autorin interessiert das alles nicht. Langlebigkeit funktioniert für sie nicht als Lebensfokus.
Wann immer es um 100-jährige oder ältere Menschen geht, dreht sich die Diskussion schnell um Fragen wie: Was machen diese Personen richtig? Wie leben sie, dass sie so alt geworden sind? Sind die Betreffenden dann auch noch gesund, aktiv und fröhlich, haben als Hobby Sky-Diving oder trainieren für ihren nächsten Marathon, umso mehr. Ob in Netflix-Dokus, wissenschaftlichen Studien, Gesundheits-Apps oder Ratgebern, immer schwingt diese anscheinend selbstverständliche Grundannahme mit: Dass es gut, erstrebenswert und von zentralem Interesse für uns Menschen sei, möglichst lange zu leben.
Mir vermittelt das manchmal das Gefühl, mit mir sei etwas falsch. Ich möchte nämlich keine 100 werden. Ich möchte mein Leben nicht darauf ausrichten, irgendein weit entferntes Alter anzustreben.
Was ich für ein langes Leben ändern müsste
Dabei geht es mir nicht darum, dass ich unbedingt ungesunde Gewohnheiten pflegen möchte, die meine Lebenszeit verkürzen. Ich rauche nicht. Ich treibe gerne Sport. Ich liebe es, gut zu schlafen. Meine Hobbys sind Lesen und Fremdsprachen. Würde ich jetzt noch Pizza und Pommes von meinem Ernährungsplan streichen und auf den gelegentlichen Mojito verzichten, wäre ich womöglich auf gar keinem schlechten Kurs, um das Jahrhundert voll zu machen. Doch ein gesundheitsbewusster, maßvoller Lebensstil zahlt ja nicht nur auf eine lange Zukunft ein. Er bewirkt auch, dass ich mich heute wohl fühle und gerne aufstehe.
Schwerfallen würde mir hingegen, meinen Lebensstandard auf das Ziel hin anzupassen, ein maximal langes Leben zu führen. Denn neben Tracking-Devices oder Langlebigkeitsbehandlungen spielt die finanzielle Dimension von Longevity noch auf eine ganz andere Art und Weise eine Rolle: Wollte ich mir leisten, 30 oder mehr Jahre nach Renteneintritt ohne Job zu leben, müsste ich vermutlich ab sofort auf Reisen, Restaurantbesuche und Bio-Käse-Omelettes verzichten. Ich müsste einen großen Teil meines Gehalts in eine Altersvorsorge einzahlen, mir einen Zweitjob suchen oder eben bis zu meinem Tod arbeiten. All diese Überlegungen machen mir keine große Lust, 90 oder sogar 100 zu werden.
Ein weiterer Gedanke, der mich plagt: Das Ziel eines möglichst langen Leben vor Augen, sollte ich beispielsweise schon jetzt meinem Cousin samstags um 21 Uhr Tschüss sagen, um meinen optimalen Schlafrhythmus einzuhalten, anstatt mit ihm durchzufeiern und im Morgengrauen lächelnd und beschwipst nach Hause zu schlendern. Bewusst heute auf eine schöne Zeit mit einem lieben Menschen verzichten, um möglichst viele Jahre womöglich ohne ihn zu verbringen? Das entspräche nicht meiner Vorstellung von einem erfüllten Leben. Mein Cousin und meine Geschwister sind alle einige Jahr älter als ich sind und vermutlich nicht mehr da, wenn ich meinen 100. Geburtstag feierte.
Mein Fokus liegt auf heute, morgen und dem nächsten Jahr
Anstatt konsequent ein hohes Alter anzustreben, folge ich also lieber einem Kurs, der mich von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr trägt. Einem Kurs, mit dem ich mich wohl fühle, der berücksichtigt, was mir gerade gut tut. Was ich momentan brauche. Wo ich aktuell an meine Grenzen stoße. Wie ich Sinn und Erfüllung in meinem Leben spüren kann. Überschneidet sich da etwas mit einer Lebensweise, die mich alt werden lässt – fein. Im Zweifel feiere ich aber lieber dieses Wochenende etwas zu lange, genieße lieber heute meine Pizza, leiste mir im nächsten Urlaub meine Wunschreise, als im Gedanken an das Jahr 2056 darauf zu verzichten.
Kürzlich sind mir beim Lesen zwei Zitate begegnet, die ich mir angestrichen habe: "Jeder Tag des Lebens ist leben, um an einem anderen Tag zu sterben", sagt eine Protagonistin in dem Roman "Daughters of Shandong" von Eve J. Chung. In "The Joy Luck Club" von Amy Tan wiederum heißt es "Nicht zu kurz, nicht zu lang. Unsere Longevity möge angemessen sein." Beide Zitate enthalten eine Weisheit, die mir zusagt. Ob ein Leben erfüllt, wertvoll und intensiv ist, hängt schließlich nicht nur von seiner Länge ab, sondern davon, wie es die jeweilige Person gestaltet und empfindet.
Wenn ich das nächste Mal einen 100-jährigen Menschen treffe, werde ich ihn jedenfalls nicht nach seinem Langlebigkeitsgeheimnis fragen. Was ich von diesem Menschen wissen möchte, ist, wie die 1940er so für ihn waren. Was er im Leben für wichtig hält. Welche Erfahrungen er um keinen Preis missen wollte. Welche Entscheidung er am meisten bereut. Allerdings wären bei den letzten drei Fragen die Antworten aller Menschen interessant, egal ob jung oder alt. Denn was Menschen über ihr Leben erzählen möchten, ist es wert, gehört zu werden.
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