Kein Wort von Obdachlosigkeit

Eine Beobachtung: Das Wort „Obdachlosigkeit“ kommt in den Wahlprogrammen der derzeit aussichtsreicheren Parteien, die sich zur Bundestagswahl 2025 stellen, mit Ausnahme der Grünen und der Linkspartei, nicht vor. So wie weitere ungeschminkte Begriffe, die auf das Leben der vielen anderen Bürger, das Wahlvolk, zutreffen, nicht formuliert oder allenfalls schwammig umschrieben werden. Dafür liegen die PrioritätenWeiterlesen

Jan 22, 2025 - 14:43
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Kein Wort von Obdachlosigkeit

Eine Beobachtung: Das Wort „Obdachlosigkeit“ kommt in den Wahlprogrammen der derzeit aussichtsreicheren Parteien, die sich zur Bundestagswahl 2025 stellen, mit Ausnahme der Grünen und der Linkspartei, nicht vor. So wie weitere ungeschminkte Begriffe, die auf das Leben der vielen anderen Bürger, das Wahlvolk, zutreffen, nicht formuliert oder allenfalls schwammig umschrieben werden. Dafür liegen die Prioritäten woanders. Es bleibt dunkel in Deutschland. Ein Beitrag von Frank Blenz.

Obdachlos in einem Land, das so reich ist, für so viel Rüstung so viel auszugeben?

Seit einigen Monaten begegne ich mehrmals in der Woche einem Menschen, der auf der Straße lebt. Nebenbei, ich sehe seit Jahren öfter Menschen, die kein Zuhause haben oder in einer Notunterkunft hausen. Und das sowohl in Metropolen als auch in einem vergleichsweise kleinen Ort wie in meiner Heimatstadt. Stets erblicke ich diesen Mann respektvoll lediglich aus der Distanz, wenn er einen Einkaufswagen vor sich herschiebt oder neben diesem eine Pause einlegt. Seine Pausen geraten lange, er hat Zeit, er hat nichts vor, er wirkt aus der Gesellschaft gefallen.

Doch ist er Teil dieser unserer Gemeinschaft, die es letztlich fortgesetzt zulässt, dass es Menschen wie ihn gibt, dass es ihm so beschissen ergeht. Er meistert sein Schicksal, habe ich das Gefühl, was bleibt ihm übrig, er schreitet durch den Ort, aufrecht, trotz allem. In dem Einkaufswagen, den er sich von einem Lebensmittelladen sicher nur ausgeliehen hat, hat der Mann wohl all seinen kargen Besitz verstaut, Kleidung, Proviant, Schlafsack, persönliche Sachen, alles geschützt von einer Plane und von Decken. Selbst ist der Wohnungslose (er sieht nicht aus, als habe er eine feste Bleibe) in mehrere Lagen Kleidung eingepackt, als wäre der strengste Winter im Gang, nach Zwiebelprinzip. Der junge Mann, er ist noch jung, sieht an und für sich stattlich aus: groß gewachsen, einen dichten schwarzen Bart, braungebrannt, große Augen und durchaus kein grimmiger Blick. Leise und ruhig bewegt er sich durch die Stadt, keinem tritt er zu nahe. Wenn er in einen Laden geht, erledigt er unauffällig seine kleinen, ausgesuchten Einkäufe, ein, zwei Äpfel, Toastbrot, ewig haltender Käse, ein, zwei Bananen. Dann bezahlt er höflich und begibt sich wieder ins Freie, seinen Einkaufs-Transport-Wagen vor sich herschiebend.

Sprachlos machende Zahlen

Was ist von der Politik zu erwarten? Wie eingangs erwähnt, wohl wenig. „Wir werden uns für Sie einsetzen“, wie das Politiker gern „versprechen“, das muss reichen. Immerhin finden sich in Wahlprogrammen weniger etablierter Parteien Begriffe wie Mietpreisbremse, soziale Standards und sogar die in diesem reichen Land nicht existente Vermögenssteuer. Ohne Illusion ist ernüchternd zu sagen: Bei denen, die am Ende die Regierungskoalition in Berlin bilden werden, wird Obdachlosigkeit weiter keine Rolle spielen. Dabei treffen Kernbegriffe den Nagel auf den Kopf des Notwendigen wie: Mieten, eine soziale Gesellschaft in allen Bereichen, die gerechte Verteilung der Erträge und Errungenschaften. Genau diese Punkte stehen nicht auf der Tagesordnung, es wird Not und Spaltung in Kauf genommen. An anderer Stelle wird dafür umso mehr geklotzt.

Eine schlichte Grafik zum Thema Rüstungsausgaben Deutschlands in den vergangenen zehn Jahren machte mich sprachlos. Ich sah zunächst einen kurzen Balken, der die Zahl 32 Milliarden Euro darstellte. Der Balken für das Jahr 2024 stand wesentlich größer da: 90 Milliarden Euro. Das heißt: drei Mal so viel für Rüstung, Militär, Verteidigung wie vor zehn Jahren. Mir kamen mehrere Ausrufezeichen in den Sinn. Ich fand weitere Informationen beim Verein Informationsstelle Militarisierung, die besagen, dass Deutschland das unsägliche Zwei-Prozent-Ziel in Sachen Rüstung „geknackt“ habe. Die Profiteure jubeln. Das Ende dieser „Erfolgsstory“ ist nicht in Sicht.

Alles Negative wächst: die Rüstung, die Armut, das Asoziale, das Auseinanderdriften

Die Zahl der Menschen, wie der bärtige junge Mann mit seinem Wagen einer ist, wächst, kein Wunder, denn auch die Zahl der Menschen, die in der sogenannten Mitte der Gesellschaft leben und doch kämpfen müssen, über die Runden zu kommen, wächst. In die Armut abzustürzen, die krasse, die ohne Geld und ohne Heim und ohne Perspektive, also unten, ist für sie eine große Gefahr und die nächste Stufe des sozialen Abstiegs. Diese Option offenbart sich mehr und mehr Bürgern, selbst denen, denen es aus ihrer Sicht (noch) gut geht. Das einstige Wohlstandsversprechen der BRD mit sozialer Marktwirtschaft ist Nostalgie.

Was dem obdachlosen Mann, dem ich öfter begegne, widerfährt, widerfährt in unserer westlichen Welt, die so frei und gerecht und wertebasiert und gut und reich ist, vielen Menschen. Und nein, ich sage nicht „zu vielen“ Menschen. Das wäre, als akzeptierte ich, dass man bis zu einer bestimmten Zahl sagen könnte, „das sind viele“, okay, erst ab da sind es „zu viele“. Jeder Mensch, der Not leidet, der auf der Straße lebt, dem es schlecht geht, ist zu viel!

Und nein: kein Mensch, dem es schlecht geht, ist selbst schuld daran. Doch die tägliche aufmerksame Lektüre der führenden Medien genügt, die Artikel über Armut, über Obdachlosigkeit, Statistiken empfinde ich schockierend, sie sind empörend und doch ernüchternd. Denn die Verantwortlichen, die, welche dagegensteuern müssten, tun es nicht, sie reden allenfalls immer mal davon. Vor allem aber wird auf schwache Menschen in der Gesellschaft eingedroschen. Das ist unsere bundesdeutsche Leistungsgesellschaftsnatur, nicht wahr? Doch nein: Kein Mensch lebt freiwillig auf der Straße, kein Mensch schläft freiwillig unter einer Brücke, kein Mensch (auch nicht obdachlose Menschen) sammelt gern Pfandflaschen, bettelt, kramt im Müll nach Essen. Keiner.

Warum duldet die so genannte Mehrheitsgesellschaft, angeführt und an der Nase herumgeführt von einer selbstgefälligen, mächtigen, anmaßenden Minderheitsgesellschaft, die sich zunehmend in eine überbordend reiche und abgeschottete Parallelgesellschaft verwandelt, warum duldet sie den Zustand der Not von Mitmenschen? Dieses Dulden, dieses fatalistische Ratlos-Sein, weil das halt so ist mit der Armut, hat seinen Ursprung auch in der Mitte der Gesellschaft, in der täglich Asoziales abläuft und geduldet wird. Die, die viel haben, nehmen und nehmen, und zwar denen, die an Eigentum, eine Erfindung zunehmend problematischer Art, nicht viel bis nichts vorzuweisen haben.

Und so kann die eine Seite mehr Miete fordern, die Preise, die Abgaben und Gebühren erhöhen. Oder der Mehrheit auf der anderen Seite raten, doch den Gürtel enger zu schnallen. Wer nicht mithält, gerät in Gefahr, draußen zu sein. Schon mal bei einer Wohnungsräumung dabei gewesen? Oder schon mal den Strom abgeschaltet bekommen? Bei der Tafel angestellt? Harte Zeiten. Die Zeitungen sind voll von Schlagzeilen, dass große Firmen Belegschaften abbauen, die Renditen aber auszahlen. Die einen werden gefeuert, die anderen sind am Feiern. Wir haben dazu passend satt Politiker, die labern und keine Angebote machen, all diese gesellschaftlichen Missstände (die sie selbst mit hervorgerufen haben, diese hegen und pflegen) zu irgend etwas, das man Besseres nennen könnte, zu ändern. Die im Warmen Weilenden reden lieber von Zusammenhalt. Dann wird schon alles gut. Sie meinen aber mehr Rüstung, dulden mehr Armut, mehr Asozialität, mehr Auseinanderdriften. So ist halt die Welt.

Kein Vorbild USA

In den USA, unserem großen Bruderland, las ich, leben nach aktuellen Erhebungen mehr als 700.000 Menschen auf der Straße. Nicht mitgezählt sind diejenigen, die in Wohnmobilen, in Zelten, in Autos oder bei Freunden oder Verwandten leben, weil sie sich keine Wohnung leisten können. Die Mieten, die Preise des täglichen Lebens sind einfach zu hoch. Da sage mal einer: „Selbst schuld“. Von wegen. Viele der genannten Menschen halten sich sogar an die „Fleißig, fleißig“-Moral: Sie gehen arbeiten, manche gar in zwei, drei Jobs. Dennoch soll das nicht reichen, nicht genug sein, um in Würde leben zu können? Sollen sie sich halt mehr anstrengen?

Was tun die Eliten? Sie verachten die Menschen, die sie unter sich wähnen. Beispiel: In Frankreich hat man 2024, als die Olympischen Sommerspiele in Paris stattfanden, die Obdachlosen, die in der Stadt lebten, unter Brücken, in Parks, in Seitenstraßen, an den Ufern der Seine und der Marne, in Busse gesteckt und aus der Stadt gefahren. Wo kein Mensch, da kein Problem. Es sollten schöne Spiele werden mit schönen Bildern. Obdachlose sind nicht schön, wie zynisch. Ihre Würde, ihren Stolz, die Souveränität und die verbliebene Freiheit haben sich dennoch nicht wenige dieser schlecht behandelten Menschen ohne ein Dach über dem Kopf nicht nehmen lassen – sie blieben! Sie bauten ihre Zelte und Verschläge mutig und trotzig anderswo in Paris auf. Den Eliten sei gesagt: Paris ist auch deren Heimat, der Himmel über der Stadt der Liebe, oh, welch großes Wort, ist auch ihr Dach.

Die Lösung ist einfach – wenn man nur will

Bis 2030 soll die Obdachlosigkeit in unseren entwickelten reichen Nationen des Westens Geschichte sein. So lautet eine vollmundige Ankündigung, die auf einer Tagung in Lissabon schon 2021 von den EU-Ländern gemacht wurde. Jetzt haben wir bereits 2025. Es scheint, dass das Vorhaben mehr als fünf Jahre braucht. Dabei ist es einfach, würde einem konsequenten Konzept gefolgt werden. Das nennt sich auf gut Deutsch: Zuerst eine Wohnung und dann das Halten der Wohnung mit der Unterstützung der Gesellschaft. Auf English heißt das „Housing First“. In den USA sagte dazu eine Forscherin: „Wenn wir Obdachlosigkeit beenden wollten, dann könnten wir das einfach tun.“ Das Zitat habe ich in der taz gefunden:

Es sei fast ironisch, sagt Ana Stefančić (Columbia University). Eine Art Missverständnis. Wenn es heute um Housing First gehe, dann vor allem um die Wohnungen und um die Beendigung von Obdachlosigkeit. Dabei sei das doch der einfachste Teil. „Wenn wir Obdachlosigkeit beenden wollten, dann könnten wir das einfach tun“, sagt Stefančić. Eine Frage von politischen Entscheidungen, eine reine Abwägung in wohlhabenden Gesellschaften.

In einem Leserbrief dazu heißt es:

Obdachlosigkeit ist die chronische Krankheit dieser und fast aller Metropolen.“ Richtig, denn man muss gar nicht über den großen Teich schauen, im reichen Deutschland sind die Städte auch schon voll mit Obdachlosen. Man muss sich das einmal vor Augen halten: Frauen, oftmals sogar im hohen Alter, sind in diesem reichen Land obdachlos und müssen auf der Straße leben, aber kein Politiker in Deutschland schämt sich dafür. „Mammon first!“‚steht in den kapitalistischen Ländern immer noch an erster Stelle.

Weiter heißt es in der taz:

Als Wissenschaftler, der mit obdachlosen Menschen und psychisch Erkrankten arbeitet, habe er dann begriffen, dass der Fehler nicht bei diesen Menschen liegt, sondern in deren Behandlung.

Bis heute denken viele anders, und vielleicht ist das der wahre Grund, warum wir Obdachlosigkeit überhaupt hinnehmen können. In den Vereinigten Staaten ist es eben das bittere Ende des American Dream. Diese Menschen hätten es einfach nicht geschafft, sich nicht genug angestrengt, seien faul oder schwach. Auch in Berlin habe ich ähnliche Argumente gehört, die uns die Verantwortung vom Leib halten. Als hätten alle die gleichen Möglichkeiten, es „zu schaffen“. Menschen, die in Heimen aufwuchsen, Missbrauch erfahren haben, als junge Erwachsene trotz aller Traumatisierung sich selbst überlassen sind.

Statt Lösung lieber Bestrafung

Ich denke an die Erklärung der Menschenrechte, in der steht, dass Menschenrechte Rechte sind, die sich aus der Würde des Menschen herleiten und begründen lassen; Rechte, die unveräußerlich, unteilbar und unverzichtbar sind. Sie stehen allen Menschen zu, unabhängig davon, wo sie leben, und unabhängig davon, wie sie leben (Quelle: BMJ). Und dann lande ich wieder in der Realität, in der darüber sinniert wird, Menschen, die das Tempo unserer westlichen Selbstherrlichkeit nicht halten können, bestraft werden sollten. Zitat:

Bestrafung First!

Für die Leute, die eine Bestrafung für Obdachlose auf öffentlichen Plätzen einführen wollen, heißt die Problemlösung: Die Leute sind weg, entweder nicht mehr da, weil im Knast, oder nicht mehr da, weil sie in Gemeinden ausweichen, die (noch) nicht strafen. Oder weil sie sterben – verhungern, erfrieren, an schlechtem Essen sterben, an Überhitzung, dem letzten Schuss. Oder einfach überfahren werden. Das ist ihnen egal, nur in ihrem Lebensumfeld wollen sie davon nicht durch den bloßen Anblick belästigt werden. Diesen Anblick empfinden sie als ebenso empörend wie den ihres eigenen Mülls, wenn der eine Woche lang nicht abgeholt wird. Das passiert nur unter zwei Bedingungen: absolute Sicherheit, selbst nie obdachlos zu werden. Oder extreme Angst davor, die zur Verdrängung jeder Erinnerung an die Möglichkeit, obdachlos zu werden, zwingt. Monomi auf taz.de

Quelle: taz Leserbriefe

Wohin geht die Reise?

Eine Prognose, die nicht eintreten darf: Angesichts dessen, dass unsere westliche Wertewelt geradezu atemlos unterwegs ist, zu einer noch extremeren Oben-und-Unten-Welt als bisher zu werden droht, wird folglich die Obdachlosigkeit zunehmen, die Mieten werden weiter steigen, die Gelder für Bedürftige werden noch mehr zusammengestrichen, die Gelder für das Gemeinwohl, für das Gemeinwesen mit all seinen Facetten, die Forcierung von „Jeder ist sich selbst der Nächste“ und „Mir das Meiste“. Ich denke nochmal an die Aussage: „Eine Frage von politischen Entscheidungen, eine reine Abwägung in wohlhabenden Gesellschaften.“ – Die wohlhabenden Gesellschaften haben kalte Prioritäten auf dem Zettel. Und so wird es kommen:

Auf dass es in zwei, drei, vier Jahren den ersten Menschen auf der Erde geben wird, der eine Billion auf seinem Konto haben wird. Keiner hält ihn auf dabei. Schon jetzt wird ihm zugejubelt bei 440 Milliarden. Mir kommt der Satz von Bertolt Brecht in den Sinn, der 1934 dichtete: „Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an. Und der Arme sagte bleich, wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.“

Titelbild: Svetlana Jonson/shutterstock.com

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