Simon Kjaers Karriereende: Fels in der Brandung
Simon Kjaer hat seine Laufbahn für beendet erklärt. Dabei lässt sein stilles Karriereende fast vergessen, was für ein großer Spieler er war.
Am vergangenen Montag setzte sich Simon Kjær auf seiner Wohnzimmercouch den vor die Fernsehkameras des dänischen Sportsenders TV Sport 2. Der mittlerweile 35-jährige Däne lehnte sich in sein Rückenkissen, seine schulterlangen Haare waren seitlich nach hinten gekämmt, im Hintergrund loderte noch die Glut vom Vorabend im Kamin vor sich hin.
Kjær saß gelassen da, die Beine nach außen gelehnt, wie in seinen besten Tagen auf dem Feld, als die Offensivversuche seiner Gegenspieler wie Wellen gegen Felsen am großgewachsenen Innenverteidiger zerschellten. Knapp sechs Monate ist es her, dass er noch Erling Haaland beim Vorbereitungs-Kick vor der Europameisterschaft für knapp 30 Minuten am Torerfolg hindern musste. Mit persönlich mäßigem Erfolg: Zehn Minuten nach Kjaers Einwechslung schob der norwegische Ausnahmestürmer zum zwischenzeitlichen 2:1-Anschlusstreffer ein. Für Kjær war es der bis dahin letzte Einsatz auf professioneller Ebene; bei der Europameisterschaft verfolgte er alle Spiele von der Bank aus. Seither war es ruhig geworden um den 132-maligen dänischen Ex-Nationalspieler, der sich nun erstmals seit seinem Vertragsende beim AC Mailand im vergangenen Sommer zu Wort meldete.
Zu seiner Gefühlslage nach der EM ohne Einsatz sagte Kjær vor den aufgestellten TV-Kameras: „Ich habe mir angeschaut, was auf dem Tisch lag, nur um dabei festzustellen, dass es nicht das Richtige für mich gab, an erster Stelle für meine Familie und danach für meinen Sport.“ Er habe unter anderem Angebote aus den Top-5-Ligen Europas abgelehnt. Was er dann sagte, war noch wichtiger: „Jetzt ist die richtige Zeit gekommen, um dieses Kapitel zu schließen.“ Simon Kjær beendete an diesem Januartag, während in den meisten Ligen schon eine Halbserie gespielt ist, seine Karriere.
Warum ausgerechnet jetzt? „Ich hatte es nicht nötig, irgendjemanden außer mich selbst darüber zu informieren’’, antwortet Kjær auf die Frage, ob er die Art und Weise seines Abschieds bereue. „Deshalb sitzen wir auch im Januar hier, weil es für mich nicht wichtig war, einen großen Abschied zu feiern.“ Der knapp dreiminütige Interview-Ausschnitt vermittelt eden Eindruck eines recht nüchternen, reflektierten Karriereausklangs.
Leader-Qualitäten
Kjaers Karriere hatte einst in seiner Heimat beim FC Midtjylland begonnen, von wo er im Alter von 19 Jahren früh den Sprung ins Ausland wagte. Bei US Palermo erkannten die Verantwortlichen früh sein Talent und boten ihm einen sofortigen Stammplatz in der Innenverteidigung des italienischen Erstligisten an. Zwischen Spielern wie Javier Pastore und Edison Cavani prägte Simon Kjaer die erfolgreichsten zwei Jahre der Vereinsgeschichte, der Höhepunkt: die Qualifikation zur Europa League in der Saison 2009/10. Im Anschluss daran nahm der VfL Wolfsburg knapp 12,5 Millionen Euro in die Hand, um das Defensiv-Talent aus Sizilien in die Autostadt zu lotsen.
Zur Verpflichtung Kjaers im Sommer 210 sagte der damalige Wolfsburger Spordirektor Dieter Hoeneß: „Simon ist nicht nur ein sehr guter, aggressiver Abwehrspieler, sondern trotz seines jungen Alters bereits eine Persönlichkeit auf dem Platz. Er verfügt schon über Leader-Qualitäten.“ Während Kjaer in Palermo noch in einem funktionierenden Kollektiv seine ersten Schritte im Profi-Fußball gehen konnte, fand er sich in Wolfsburg hingegen in einem orientierungslosen Gefüge wieder. In drei Jahren beim VfL erlebte er fünf Trainer und drei Sportdirektoren. Dem Chaos in der Autostadt schien der 21-jährige Kjaer noch nicht gewachsen. Nach einigen schwerwiegenden Patzern war Kjaer schnell vom erhofften Stabilisator zum Sündenbock stilisiert worden.
Nach seiner Zeit in Wolfsburg kam es für Kjaer im Herbst 2014 mit OSC Lille zu einem direkten Aufeinandertreffen mit seinem alten Arbeitgeber. Vor dem Europa-League-Gruppenspiel attestierte ihm Wolfsburgs Trainer Dieter Hecking "Simon ist dort ein ganz ganz wichtiger Spieler, der eine Führungsqualität in dieser Mannschaft übernommen hat, wir wussten am Ende auch das es hier etwas unglücklich für ihn gelaufen ist." Denn Kjaer hatte in Lille seiner Karriere wieder neuen Auftrieb verliehen.
Spätestens nachdem er 2016 die Kapitänsbinde für sein Land übernommen hatte, war er zur Riege der besten Innenverteidiger Europas gestoßen. Es schien, als habe er nur etwas Zeit gebraucht, um seinem vorauseilenden Ruf gerecht zu werden.
Am 12. Juni 2021, im Auftaktspiel der EM 2021 gegen Finnland, sank Simon Kjærs Mitspieler Christian Eriksen in der 43. Minute in der Nähe der Seitenlinie zu Boden. Während Mitspieler wie Gegenspieler sich noch im Moment des Geschehens verwirrt umschauten, liefen Joakim Mæhle und Simon Kjær in Windeseile herbei, um sich über den Zustand des regungslos auf dem Rasen verharrenden Eriksen zu vergewissern. Ein kurzer näherer Blick reichte aus: Mæhle winkte hektisch die Mannschaftsärzte herbei, während Kjær schon beschäftigt war, die Zunge aus dem Hals seines langjährigen Freundes zu befreien.
Eriksen hatte einen Herzstillstand erlitten. Die Zuschauer im Kopenhagener Parken-Stadion verfielen von einem auf den anderen Moment in eine Schockstarre. Als die Spieler auf dem Feld damit beschäftigt waren, zu realisieren, in welch heiklen Situation sie sich gerade wiederfanden, behielt Kjær den Überblick und ordnete seine Mitspieler an, einen Sichtschutzkreis zu bilden, um seine Mannschaftsärzte und Eriksen in diesen bangen Minuten vor den Augen der Öffentlichkeit zu schützen.
Die Kameras wendeten sich vom Geschehen ab, die dänischen wie finnischen Fans standen fassungslos vor ihren Plätzen, Eriksens Lebenspartnerin erreichte den Spielfeldrand. Dort wurde sie, ehe sie die Seitenlinie des Rasens überqueren konnte, von eben jenem Simon Kjær eingefangen, der gerade noch seine Mitspieler zum Sichtschutz koordinieren konnte. Kjær hielt die sichtlich aufgelöste Sabrina Kvist Jensen für mehrere Minuten eng bei sich und redete ihr Mut zu, bis Eriksen nach erfolgreicher Wiederbelebung vom Feld getragen werden konnte.
Das Wichtigste an diesem Tag: Eriksen überlebte den Vorfall und erfreut sich bis heute bester Gesundheit. Neben dem glücklichen Ausgang dieses 12. Juni bleibt Simon Kjær in Erinnerung, der in den wohl schwierigsten Minuten den Überblick und das richtige Gespür für die Situation bewies und seinem Mitspieler durch blitzschnelles Einschreiten vermutlich das Leben rettete.
Im Anschluss an das Turnier wurde Kjær mit dem wohl erfolgreichsten Jahr seiner Karriere beschenkt. Als maßgebliche Säule hatte er "Danish Dynamite" bis ins Halbfinale von Wembley geführt und gewann als Stammspieler in der darauffolgenden Saison mit dem AC Mailand die italienische Meisterschaft – den einzigen Titel seiner Karriere.
Für das Jahr 2021 war er auf der Shortlist des Ballon d'Or unter den besten 20 Spielern der Welt wiederzufinden. Bei der Verleihung hob ihn Moderator Didier Drogba noch einmal gesondert hervor: „Dieser Mann ist ein Held. Das war größer als Fußball, das war größer als wir. Für mich das Highlight 2021.“ Applaus hallte durch den Saal, Simon Kjær saß sichtlich gerührt im Pariser „Théâtre du Châtelet“, zwei Sitze weiter hatten Fußballer wie Suárez, Mbappé und Lionel Messi Platz genommen. Dankbar nickte Kjær Drogba zu, als sei der Platz in der ersten Reihe dieser glamourösen Veranstaltung nicht das Habitat, in dem sich der Däne wohlfühlt.
Zum Abschluss der Verkündung seines Karriereendes betonte Simon Kjær: „In meinem Kopf hätte es keinen besseren Ausgang geben können. Ich hatte meinen Abschied im San Siro. Dort wusste ich, dass es mein Ende war.“
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