Jessy James LaFleur: Wie eine Künstlerin die Geschichte Ostdeutschlands neu erzählt

Der Osten ist rechts. Ein Narrativ, das gerade im Westen beliebt ist. Warum westdeutsche Überheblichkeit nicht hilft und wir stattdessen alle an einem Strang ziehen müssen, um dem Rechtsruck entgegenzuwirken, erklärt Ost-Aktivistin und Spoken-Word-Künstlerin Jessy James LaFleur im Interview. 

Jan 20, 2025 - 11:34
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Jessy James LaFleur: Wie eine Künstlerin die Geschichte Ostdeutschlands neu erzählt

Der Osten ist rechts. Ein Narrativ, das gerade im Westen beliebt ist. Warum westdeutsche Überheblichkeit nicht hilft und wir stattdessen alle an einem Strang ziehen müssen, um dem Rechtsruck entgegenzuwirken, erklärt Ost-Aktivistin und Spoken-Word-Künstlerin Jessy James LaFleur im Interview. 

Den Osten nicht aufgeben. Das ist die Mission von Spoken-Word-Artist Jessy James LaFleur. Das Klischee, in den neuen Bundesländern wählten alle rechts oder sogar rechtsextrem, stört die Aktivistin. Zum einen stimmt es nicht, zum anderen sei es gefährlich. "Wenn wir den Rechtsruck nur dem Osten zuschreiben, bietet das dem Westen eine bequeme Ausrede, das Problem zu ignorieren", so LaFleur. Dabei, das zeigt die jüngst veröffentlichte Leipziger Autoritarismus-Studie, nehmen rechtsextreme und demokratiefeindliche Einstellungen besonders im Westen zu. Im Interview mit BRIGITTE erklärt sie, warum West und Ost vermehrt in den Austausch gehen sollten, um gemeinsam gegen demokratiefeindliche Strukturen und gegen rechts vorzugehen.

BRIGITTE: Sie sind ursprünglich aus Ostbelgien. Wie kam es dazu, dass Sie Ihre Stimme jetzt für Ostdeutschland erheben? 

Ostbelgier:innen bilden die deutschsprachige Minderheit Belgiens und Diskriminierung im eigenen Land ist uns leider vertraut. Die Geschichte meines Partners, der im Lausitzer Kohlerevier aufwuchs, erinnerte mich stark an meine eigenen Erfahrungen. Durch die Gründung der "Spoken Word Akademie" im sorbischen Siedlungsgebiet Bautzen wurde mir klar, dass meine Erfahrungen gar nicht so weit von denen vieler Ostdeutscher entfernt sind. Diese Erkenntnis wollte ich, in Kombination mit meiner Poesie, nutzen, um Realitäten aus dem Osten sichtbarer zu machen. Im Westen merke ich immer wieder, dass die Einheit Deutschlands in vielen Köpfen noch nicht vollständig ist und ein negatives Bild über den Osten vorherrscht. Das schmerzt.

Wie haben Sie sich dem Thema genähert?  

2019 spielte ich in einem Leipziger Theaterstück eine rechtspopulistische Mutter. Um die Figur wirklich zu verstehen, besuchte ich inkognito AfD-Veranstaltungen und Montagsdemos in Ostdeutschland und sprach mit Frauen über ihre Perspektiven. Die Gründe, warum viele dort diese Partei unterstützen, hängen oft mit sozialen und wirtschaftlichen Unsicherheiten zusammen, die seit der Wende bestehen. Auch wenn ich die Wahlentscheidung nicht gutheißen kann, verstehe ich die Ängste und das Gefühl, von der Gesellschaft im Stich gelassen zu werden. 

Was wären denn klassische Ängste, mit denen die Menschen im Osten kämpfen?

Nach der Wende kauften viele Westdeutsche im Osten Immobilien und Grundstücke, oft zu niedrigen Preisen, während die Treuhand zahlreiche volkseigene Betriebe privatisierte oder auflöste. Viele Ostdeutsche haben bis heute das Gefühl, dass ihre wirtschaftlichen Grundlagen gefährdet und sie benachteiligt wurden. Besonders ostdeutsche Frauen waren betroffen: In der DDR waren sie aktiv am Berufsleben beteiligt und profitierten von umfassender Kinderbetreuung – nach der Wende fehlten diese Strukturen oft. Darüber hinaus bestehen weiterhin gravierende Unterschiede bei Löhnen, Renten und Arbeitslosigkeit. Diese Benachteiligungen und das Gefühl des Alleingelassenseins führen immer noch dazu, dass viele junge Menschen ihre Perspektiven anderswo suchen. Solche Erfahrungen mögen für viele Menschen im Westen schwer nachvollziehbar sein.

Wie konnte es denn dazu kommen, dass die Menschen in Ostdeutschland so vergessen wurden?

Die Wende in Deutschland wurde nie richtig aufgearbeitet. 1990 wurde verkündet: "So, wir sind wieder ein geeintes Land." Doch nach 40 Jahren DDR waren die Menschen im Osten in einem völlig anderen System aufgewachsen, mit eigenen Werten und Strukturen. Nach der Wiedervereinigung wurden jedoch vor allem westliche Gesetze und Konzepte übernommen, als hätte die DDR nie existiert. Für viele Menschen bedeutete das Ende der DDR zunächst eine große Befreiung – erst Jahre später entstand das Bewusstsein, dass die ostdeutsche Perspektive in der Wiedervereinigung kaum berücksichtigt wurde. Selbst Errungenschaften wie die "Friedliche Revolution", die den Mauerfall möglich machte, werden noch immer unzureichend gewürdigt. Diese Haltung hinterlässt bis heute Spuren und führt zu Spannungen, Missverständnissen und Frust.

Sie halten auch Workshops an Schulen. Wie holen Sie Jugendliche ab, die rechtes Gedankengut äußern? 

Wenn ein richtig rechter Jugendlicher vor mir sitzt, dann werde ich diesen nicht mehr abholen. Der wird alles ablehnen, was ich bin. Aber die Jugendlichen, die eher Meinungen nachplappern, die vielleicht rechte und sexistische Sprüche klopfen, die sind eben deutlich in der Überzahl – und die kann ich sehr wohl abholen. Ich muss ihnen nur eine andere Welt zeigen, eine alternative Realität zu ihrer eigenen. Das klappt vor allem mit Zuhören und Kommunikation.

Haben Sie deswegen die Spoken Word Akademie gegründet? Um jungen Menschen aus dem Osten eine Stimme zu geben?

Genau. Wenn niemand die Geschichten des Ostens erzählt, bleibt er eine bloße Projektionsfläche. Die Spoken Word Akademie bildet junge Menschen zu Bühnenpoet:innen aus, damit sie ihre eigenen Geschichten und Perspektiven kraftvoll teilen können – durch die Power der Poesie, des Spoken Word und des Miteinanders. Wir organisieren öffentliche Veranstaltungen und verlegen Bücher, die die ostdeutsche Stimme hörbar und sichtbar machen. So vermitteln wir den jungen Leuten, dass ihre Perspektiven zählen und dass wir gemeinsam für ein lebendiges und engagiertes Ostdeutschland einstehen können.

Die Wahlergebnisse in Sachsen, Thüringen und Brandenburg sprechen dennoch für sich. Der Rechtsruck lässt sich nicht bestreiten. Was macht das mit Ihnen?

Rechtsruck ist real und erschöpft mich sehr, denn er ist in ganz Deutschland spürbar, nicht nur im Osten – dies als "Ost-Problem" abzutun, wäre nicht nur naiv, sondern gefährlich. Auch in Hessen, Bayern und Baden-Württemberg beobachten wir ähnliche Entwicklungen, doch dort wird seltener kritisch darüber gesprochen. Bei der letzten Wahl in Bayern erhielt die AfD von 6,9 Millionen Wählenden über zwei Millionen Stimmen – das sind 14,6 Prozent. Wir müssen den Rechtsruck dringend als gesamtdeutsches Problem betrachten, sonst lässt sich diese Entwicklung kaum aufhalten.

Warum ist es so gefährlich, den Rechtsruck als Ostproblem abzutun?

Wenn wir den Rechtsruck nur dem Osten zuschreiben, bietet das dem Westen eine bequeme Ausrede, das Problem zu ignorieren und sich der Verantwortung für Lösungen zu entziehen. Dabei gibt es im Osten viele Menschen, die mutig gegen rechte Strömungen kämpfen und dringend Unterstützung brauchen, um nicht auszubrennen. Gleichzeitig nutzen westdeutsche Rechtsextreme gezielt die strukturellen Probleme im Osten, etwa die neonazistische Organisation "Der dritte Weg", die in Heidelberg gegründet wurde. Auch Beispiele wie der "Nazi-Kiez" im Dortmunder Stadtteil Dorstfeld zeigen, dass rechte Strukturen in ganz Deutschland präsent sind. Der Rechtsruck ist ein gesamtdeutsches Problem – es als "ostdeutsches Phänomen" abzutun, fördert nur die weitere Ausbreitung extremistischer Netzwerke.

Inwiefern?  

Es heißt oft, der Westen habe den Osten "aufgebaut". Tatsächlich wurden jedoch Häuser und Grundstücke in erster Linie als Wertanlagen zum Spottpreis aufgekauft und renoviert – das war gewiss kein altruistisches Projekt. Heute gehört ein Großteil des Ostens westdeutschen Investoren. Kürzlich sagte mir jemand nach einem Auftritt, "die da im Osten sollten mal dankbar sein, dass sie in gedämmten Häusern sitzen dürfen". Solche Aussagen zeigen, wie tief dieses Missverständnis verankert ist. Deshalb halte ich eine öffentliche Debatte über die Frage "Wem gehört der Osten?" für dringend notwendig.

Wenn die Einheit zwischen Ost und West also gar nicht existiert, wie können wir dann weitermachen?

Ich glaube, echte Einheit ist nur dann möglich, wenn wir anerkennen, dass die DDR eine eigenständige Geschichte und Lebensweise hatte. Nach der Wende wurde vieles aus dem Westen einfach "übergestülpt", ohne die Besonderheiten der DDR-Geschichte wirklich zu berücksichtigen. Aus einem Ungleichgewicht kann keine Einheit entstehen. 

Jessy James LaFleur
Jessy James LaFleur ist 1985 in Ostbelgien geboren. Sie ist Gründerin der "Spoken Word Akademie", die demokratische und feministische Poesieprojekte junger Erwachsener realisiert. Ihr besonderer Fokus liegt auf dem Osten Deutschlands, der Wende und den Ursachen von Rechtsextremismus im ländlichen Raum.
© instagram.com/jessyjameslafleur

Hätte der Westen auch etwas vom Osten lernen können?

Der Westen hätte viel vom Osten lernen können, besonders in Bezug auf Frauenrechte: Frauen waren im Sozialismus selbstverständlich berufstätig und hatten Zugang zu umfassender Kinderbetreuung. Dieses Engagement und die Selbstständigkeit der Frauen im Osten hätten das ganze Land bereichern können, stattdessen wurden diese Dinge übersehen. Das macht mich traurig.

Verständlich. Wie kann man diese Erkenntnisse jetzt nutzen?

Um ein tieferes Verständnis zu fördern, muss die DDR-Geschichte im Schulunterricht stärker berücksichtigt werden. Auch Austauschprogramme zwischen Ost- und Weststädten könnten helfen, Vorurteile abzubauen und das Verständnis füreinander zu vertiefen. Durch Bildung und Begegnung können wir die Unterschiede wertschätzen und echte Einheit schaffen. Mit meinem Engagement möchte ich zu dem Wandel beitragen und hoffe, dass sich noch mehr Menschen im Osten wie im Westen gemeinsam für demokratische Werte einsetzen. Genau dieses gemeinsame Engagement könnte der Start für einen neuen Einheitsgedanken sein.

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